„Der Besuch der alten Dame“ - restlos gelungenes Theater
Eine erbarmungslose Menschenjagd wurde am Donnerstagabend (11.02.2010) im Theater auf dem Hornwerk vorgeführt.
Das „Theater für Niedersachsen“ (Hildesheim) zeigte Friedrich Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“.
Regie führte Petra Wüllenweber.
Vorab geb es eine Vorbesprechung mit über 200 Interessierten.
Die Milliardärswitwe Claire Zachanssian kehrt in ihre verarmte Heimatstadt irgendwo in Europa zurück.
Hier war sie in ihrer Jugend von Alfred Ill gedemütigt, geschwängert und verleumdet worden. Nun will sie sich rächen.
Sie stellt der Gemeinde einen Geldsegen in Aussicht unter der Bedingung, dass die Bewohner ihr den Alfred Ill tot ausliefern.
Der Sinn dieser geradezu experimentellen Versuchsanordnung des Theaterstücks ist, herauszufinden und zu zeigen, was Menschen unter bestimmten Voraussetzungen zu tun bereit sind.
Hier: über Leichen zu gehen.
Man mag das Gedankenexperiment etwas künstlich konstruiert finden - die Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts lassen sich mit diesem Modell nicht erklären - , es bleibt gleichwohl eine überzeugende Parabel über die Brüchigkeit der menschlichen Moral.
Die Stärke des Abends lag in der perfekten Regie.
Die reiche Witwe umgibt ein gespenstisches Dienstpersonal: der Butler Boby, der als willenlosen Werkzeug agiert und die beiden Kofferträger Koby und Loby, blind und kastriert.
Die Stadtbewohner bewegen sich als marionettenhafte Gruppe, aus der nur vorübergehend Einzelne hervortreten: der Bürgermeister, der Lehrer, der Pfarrer, der Polizist.
Koby und Loby sprechen nur unisono und die Stadtbewohner stellen ihre meist symbolisch ausgedeuteten Regungen als Chor, als Revue-Gruppe und gegen Ende als gespenstisch herumblökende Schafherde dar.
Zwischen beiden Gruppen steht Alfred Ill, anfangs lässig seine Erinnerungen hervorkramend, dann entsetzt wahrnehmend, was sich um ihn zusammenbraut, schließlich verzweifelt-resigniert dem Unvermeidlichen entgegensehend.
Ein Zug von tragischer Größe lag darin, dass er die Aufforderung des Bürgermeisters, sich zu erschießen, mit dem Satz beantwortet: „Eure Taten nehme ich euch nicht ab!"
Beachtenswert war auch, dass der Lehrer sich in ideologischen Betrachtungen ergeht. Styroporartige Versatzstücke über „Humanität" und „Gerechtigkeit" dienen zunächst dazu, das Ansinnen des Mordes zurückzuweisen.
Nach dem Umschlagspunkt dienen dieselben Phrasen dazu, den Mord zu rechtfertigen.
Am Umschlagspunkt selbst sitzen Claire und Alfred nebeneinander, über ihnen steht Boby (Szenenphoto).
Die Erinnerungen an das Kind enden mit dem kalten Ausspruch Claires: „Ich will die Vergangenheit korrigieren, indem ich dich vernichte."
Das zwölfköpfige Ensemble agierte engagiert und präzise aufeinander eingespielt.
Die Gesamtleistung gehört zum Besten, was die Truppe bisher geboten hat.
Philip Richert gab den Pfarrer als schleimigen Heuchler.
Rudolf Schwarz gestaltete den Bürgermeister als intriganten Macher.
Heidrun Reinhard gefiel in den Rollen als Bürgerin und als Ills Tochter in überkandideltem Tennisdress.
Michaela Allendorf als Mathilde brachte einen kleinen poetischen Glanz ins Spiel.
Christoph Götz gab den Hofbauer und den Polizisten: einmal als Marionette, dann als wurstigen Bürokraten.
Dieter Wahlbuhl zelebrierte den Lehrer als unfreiwilligen Selbstentlarver.
Jens Koch war der Butler Boby: ein sturer Befehlsempfänger.
Ulrike Lodwig gestaltete die Milliardärin Claire als zynische Ironikerin, als durch ihr Lebensschicksal zutiefst Verletzte und als eiskalte Rächerin.
Gotthard Hauschild glänzte als Alfred Ill: gekonnt, wie er im Mittelteil den von Verfolgungsängsten Geschüttelten spielte, ehe er entsetzt begreift, was tatsächlich auf ihn zukommt.
Die vorgeschaltete feinsinnige Einführung in das Stück durch Ilka Nordhausen besuchten über 200 Zuschauer (Photo).
Das Publikum im vollbesetzten Haus, darunter erfreulich viele Jugendliche, ging begeistert und gegraust mit und spendete am Ende minutenlangen, restlos begeisterten Beifall.
Wolfgang Motzkau-Valeton
Quelle: 1