335 Besucher erlebten das „Fußballwunder von Bern" im Theater
Nienburg. Auf der linken Seite der Bühne ist ein moderner Bartresen aufgebaut. Auf der rechten Seite blinkt eine alte Jukebox aus den 50er Jahren ab und zu auf. Das große, stilisierte Fußballtor erzeugt eine Verbindung zwischen diesen beiden Kulissen.
Der Sportjournalist Matthes Spyri (Jan Opderbeck) betritt die Kneipe. Er wartet auf einen ganz speziellen Gast. Barfrau Ingrid (Bettina Dornheim) warnt den motivierten Reporter davor, zu viele Fragen zu stellen. Dann betritt er das Lokal: Fußballlegende Helmut Rahn (Henning Schimke). Es ist sein Geburtstag, auf den er in seiner Lieblingskneipe mit Ingrid anstoßen möchte. „Sie sind ein Held", unterstreicht der Redakteur, doch Rahn will nicht über das legendäre Tor plaudern, zu oft wurde er danach gefragt. Mittlerweile ist er 60 Jahre alt. Auf der anderen Seite der Bühne machen sich die Hotelangestellten bereit für das Eintreffen der deutschen Fußballnationalmannschaft. Es ist das Jahr 1954, das Jahr, in dem der Außenseiter Deutschland die Weltmeisterschaft in Bern gewann. Eben durch dieses Tor von Helmut Rahn. Am Montagabend zeigten das Theater im Rathaus Essen und das Tourneetheater Thepiskarren in einer Co-Produktion das Schauspiel „Das Fußballwunder von Bern". Auf der Bühne wurden im Wechsel und manchmal auch gleichzeitig das Fußballereignis und das Leben des Fußball-Stars 35 Jahre später gezeigt. Es war ein Portrait, aber auch der Versuch, die Geschichte neu aufleben zu lassen, mit allen Konsequenzen. Helmut Rahn hatte mit seinem Ruhm schwer zu kämpfen. Nach dem großen Erfolg folgten Alkoholexzesse und Trunkenheitsfahrten, die zu Haftstrafen führten. „Ich war müde, ich konnte nicht mehr", erklärt der alte Rahn. Der junge Helmut (Armin Sengenberger) allerdings ist ein Heißsporn, hat jede Menge Späßchen auf Lager, scheut auch nicht davor zurück, eine Liebelei mit der Hotelangestellten Heidi (Esther Leiggener) anzufangen. Damaliger Zimmergenosse war Fritz Walter (Hans Machowiak), der den ruhigen Gegenpol zu Helmut verkörperte. Die Rigorosität des Cheftrainers Sepp Herberger (Roland Avenard) verband Training mit Taktik und Psychologie. Das Turnier wurde aus deutscher Sicht nachgestellt, indem alle Akteure die wichtigsten Szenen der Partien gegen die Türkei, Jugoslawien, Österreich und natürlich das Endspiel gegen Ungarn verbal kommentierten. Es kam tatsächlich eine Art Stadionstimmung auf, wenn das Ensemble beim Nacheifern der deutschen Treffer laut „Tooor" schrie. Am Ende erklang aus dem Hintergrund der bekannte Original-Ton des Moderators Herbert Zimmermann mit seinem nie vergessenen Torjubel. Die Inszenierung war ein Fußballstück, ohne die persönlichen Hintergründe zu vernachlässigen. Wie eng Ruhm und die Schattenseiten des Erfolges zusammenhängen können, wurde erläutert. „Es war ein Krieg gegen mich selbst", unterstreicht der Fußball-Veteran, als der Journalist kritisch sein Privatleben beleuchtet. Aber auch Sepp Herbergers Nazi-Vergangenheit wurde angerissen oder das bereits 1954 unterkühlte Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland in Person des windigen Journalisten Hempel (Stephan Bürgi), der für die Ost-Zeitung „Neues Deutschland" schrieb. Geboten wurde einerseits ein spannendes, mitreißendes Portrait eines ehrgeizigen Helden, der mit den Konsequenzen seines Glanzes nur schwer zurecht kam. Andererseits ließ die Aufführung den Esprit der Weltmeisterschaft gekonnt aufleben und gewährte einen kleinen Einblick in das Fußballleben der damaligen Zeit. Fazit: Für Fußballfans und Interessierte der Sportgeschichte ein mitreißender Abend.
Michael Duensing